TÖPFERGESELLSCHAFT · SOLOTHURN



Die Töpfergesellschaft Solothurn

Die im Jahre 1857 gegründete Töpfergesellschaft ist, entgegen den Vermutungen, die ihr etwas rätselhafter Name wecken könnte, weder ein Geheimbund noch ein Verein zur Pflege der Erinnerung an eine bedeutende Persönlichkeit der Stadt, sondern eine lose und kaum organisierte Akademie, die man zur Anhörung eines Vortrags besucht. Ihren Namen soll die anfänglich anonyme Vereinigung solothurnischer Wissenschafter und Autoren durch ein Wort des Gastreferenten Eduard Desor im Jahre 1865 erhalten haben: „Die Töpfergesellen stellen sich die Aufgabe, den zarten geistigen Ton für die wissensdurstigen Bewohner, resp. Bewohnerinnen der Stadt Solothurn kunstgerecht zu kneten und zu formen" (Keller, S. 75). Freilich lässt Desors Formulierung vermuten, dass der Name zu jener Zeit schon eingeführt war, und die mündliche Überlieferung berichtet statt dessen, er sei auf die Anweisung zurückzuführen, der Referent solle seinen Vortrag nicht nur inhaltlich korrekt, sondern auch formschön bearbeiten „wie der Töpfer seinen Krug".

Die Töpfergesellschaft hat keine Statuten, sondern nur Gewohnheiten, sie kennt keine Aktiv- und Passivmitglieder, sondern lediglich Gesellen ohne Pflichten und ohne Privilegien, ja sie besteht im wesentlichen nur aus einem Vorstand, der sich aus dem amtierenden „Altgesellen" und dem Kassier sowie den ehemaligen Chargierten zusammensetzt. Sie zieht, wie bereits angetönt, keine Mitgliederbeiträge ein, sie veranstaltet keine Generalversammlungen und keine Familienpicknicke, sie organisiert einfach jedes Jahr eine Reihe von Vorträgen aus einheimischem, nationalem und internationalem Potential. Töpfergeselle wird man und kann man nur werden, indem man der Einladung des Vorstandes, einen Vortrag zu halten, Folge leistet. Die Wahl des Themas liegt ausschliesslich im Ermessen des Geladenen, nur zwei Bedingungen werden ihm gestellt: dass er sich, wie schon erwähnt, nicht nur um den Inhalt, sondern auch um die Form seiner Aussage bemühe und dass er nicht länger als eine Stunde rede. Einheimische Vortragende erbringen diese Leistung ausschliesslich um der Ehre willen, Gästen bezahlt man zusätzlich ein Honorar. Die Töpfergesellschaft finanziert ihre Aufgaben allein aus den bescheidenen Eintrittsgebühren zu den Veranstaltungen und zweien von der Stadt und dem Kanton ausgeschütteten Subventionen. Dennoch kämpft sie wie alle andern Vortragsgesellschaften der Schweiz in einer von den Informationsfluten der Massenmedien beherrschten Zeit ums Überleben.

Freilich hat die Töpfergesellschaft einmal glanzvollere Zeiten gesehen. Ihre Gründung, angeregt durch den Kantonsschulprofessor Georg Schlatter, hatte zum Ziel, die in den Fünfzigerjahren des 19. Jahrhunderts vom Parteienhader der „Grauen" und „Roten" aufgerissenen Wunden, nach der Ablösung der alten Garde durch die junge Generation, verheilen zu lassen und die an geistigen Fragen interessierten Persönlichkeiten der Stadt ohne Rücksicht auf ihre Parteizugehörigkeit auf neutralem Boden zusammenzubringen. Zehn Vertreter verschiedener Wissenschaftszweige aus allen politischen Lagern folgten einer Einladung des Landammanns Wilhelm Vigier zu einer ersten Besprechung und erklärten sich zur Übernahme von je zwei Vorträgen bereit. Die Regierung stellte für die Veranstaltungen den Kantonsratssaal zur Verfügung. Laut einer Zeitungsnotiz vermochte die noch namenlose Gesellschaft schon in ihrer ersten Saison zu jedem der zwanzig Vorträge mehr als hundert Zuhörer und, wie immer wieder betont wurde, Zuhörerinnen zu mobilisieren. Die Referate deckten die verschiedenen Bereiche der Geistes-, der Sozial- und der Naturwissenschaften sowie der Medizin und der Jurisprudenz ab. Wenn auch in der Folgezeit gewiss Jahre weniger gut besucht wurden als andere und einmal während einer längeren Periode die Sache überhaupt einschlief, konnte die Gesellschaft doch in den ersten fünfundzwanzig Jahren ihres Bestehens bei Einnahmen in der Höhe von Fr. 12'000 und Ausgaben von Fr. 4'500 einen Überschuss von Fr. 7'500 erwirtschaften, und auch inm folgenden Vierteljahrhundert übertrafen die Einnahmen die Aufwendungen um Fr. 9'000. Dieses Geld wurde für die Anschaffung von Bildern für das geplante Kunstmuseum, von Büchern für die Bibliothek der schon 1807 gegründeten „Literarischen Gesellschaft", für eine Beisteuer an das Munzingerdenkmal und für verschiedene Werke der Wohltätigkeit verwendet. Auch die Erhaltung von Charles Sealsfields Grab auf dem Friedhof zu Sankt Niklaus wurde durch eine Zuwendung ermöglicht. Ferner gab die Gesellschaft zweimal Neujahrsblätter für die Jugend heraus und liess auch medizinische Werke allgemeinen Inhalts auf ihre Kosten drucken. Von 1878/79 bis 1920/21 konnte sie sich sogar erlauben, am Ende jeder Saison in den sogenannten „Erinnerungsblättern", einen Überblick über die Vorträge sowie eine allgemeinere Betrachtung des Altgesellen zu veröffentlichen. Erfolglos blieb sie leider in ihren Bemühungen um die Erhaltung eines Teils der Solothurner Bastionen, nämlich der sogenannten „Turmschanze", die trotz allen Einwänden geschleift wurde.

Nach den Vorträgen fanden sich die Töpfergesellen der ersten Generation in einer rauchgeschwängerten Wirtsstube zum sogenannten „Todtengericht" zusammen, wo der eben gehörte Vortrag kritisch beleuchtet wurde. Unangebrachtes Lob war streng verpönt. In jener Zeit trugen die Gesellen auch „Töpfernamen" wie Cerberus, Faustus, Mordio, frater Herbarius, Thomas Münzer usw. Ein anschauliches Bild jenes Treiben gibt der erste und langjährige Altgeselle Alfred Hartmann in seinem „Rückblick" (S. 17f.). In späterer Zeit wurde sogar für jeden Vortrag ein Korreferent bestimmt, was einesteils die Diskussion auf ein höheres Niveau hob, andererseits durch die Wiederholung des zuvor Gehörten doch auch ermüden konnte. Schon früh erwarb die Töpfergesellschaft auch zeitliche Güter. Sie bestanden im wesentlichen aus drei von Niklaus Riggenbach gestifteten Tonkrügen, aus einem gekauften, ausgestopften Kauz und einem Album mit Photographien der Gesellen und auswärtigen Referenten. Diese Preziosen wurden bei Anwesenheit eines Gastes oder bei sonstigen feierlichen Anlässen auf dem Versammlungstisch aufgestellt (Vgl. Keller, S. 77). Nach mündlicher Überlieferung soll dieser Kauz, der vor dem Altgesellen auf dem Tische stand, früher bei der Aufnahme eines neuen Gesellen eine Rolle gespielt haben. Nachdem der Kandidat in Ausstand getreten war, wurde über seine Aufnahme beraten, und bei seinem Wiedereintritt tat man ihm wortlos, indem ihm der Vogel den Kopf oder den Schwanz zeigte, das Ergebnis der Verhandlungen kund. Doch soll man, wie es heisst, nie jemanden zurückgewiesen haben. Dem Zeitgeschmack entsprechend veranstalteten die Töpfergesellen fast jeden Frühsommer am Mittwoch vor Fronleichnam einen Ausflug in die weitere Umgebung, „allwo bei leckerem Mahl und guten Weinen viel geredet wurde", und sogar ein Töpferkegelklub entstand, der sich monatlich traf (Oskar Schmidt, in: 100 Jahre, S. 20). Über den Verbleib der drei Krüge und des ausgestopften Kauzes war bei der Niederschrift dieses Textes nichts mehr zu erfahren. Die Photoalben und die 1948 begonnenen Gesellenbücher sind jedoch erhalten und sollen laut einem Beschluss des Vorstandes von 1987 beim Rücktritt des jetzigen Altgesellen als Deposita in die Zentralbibliothek gegeben werden.

Da im Zug der zunehmenden Spezialisierung die geschichtlichen Vorträge fast ausschliesslich vom historischen Verein, die naturwissenschaftlichen von der naturforschenden Gesellschaft und die kunsthistorischen vom Museumsverein übernommen wurden, fing die Töpfergesellschaft an, sich seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts vermehrt auf allgemeinere Themen und auf Schriftstellerlesungen zu konzentrieren. Gerade aufgrund der letzteren feierte sie noch einmal grosse Erfolge und erlebte ihren äusseren Kulminationspunkt in den Jahren nach dem zweiten Weltkrieg, als das Solothurner Publikum nach einer Periode extremer Rückbesinnung auf die eigenen Werte im Sinne der geistigen Landesverteidigung eine Öffnung der Grenzen sowie direkte Begegnungen mit Persönlichkeiten des Auslands ersehnte, während europäische Koryphäen relativ leicht und zu erschwinglichen Bedingungen für einen Vortrag in der kriegsverschonten, reichen Schweiz zu gewinnen waren. So wurde es möglich, dass der eine oder andere Referent an die sechshundert Zuhörer in den Konzertsaal, denn der Kantonsratssaal war viel zu klein, zu locken vermochte. Mit dem Aufkommen des Fernsehens wurde jedoch für die früheren Besucher der Lesungen die persönliche Begegnung immer unwesentlicher, hatten sie doch schon alle berühmten Männer der Gegenwart in Grossaufnahme in den eigenen vier Wänden gehabt. So legte die Töpfergesellschaft ein grösseres Gewicht auf die aufmunternde Vorstellung debütierender Autoren. Aber auch in diesem letztgenannten Bereich erwuchs ihr in den letzten Jahren eine starke Konkurrenz durch die jugendfrischen Aktivitäten der „Solothurner Literaturtage". Dazu kam auch ein Verlust an öffentlicher Anerkennung: Konnte sie sich 1957 in der Jubiläumsschrift zum hundertjährigen Bestehen noch rühmen, dass ihr als einziger nichtparlamentarischer Vereinigung das alte Privileg zustehe, im Kantonsratssaal zusammenzukommen und „ihre Zuhörer auf den Ratssesseln sitzen und ihre Referenten gar vom Podium des Kantonsratspräsidenten herab sprechen zu lassen" (H.E. Gerber, in: 100 Jahre, S. 6), so hat sie in der Zwischenzeit auch diese Bevorzugung verloren, darf sich aber immerhin noch im Gemeinderatssaal versammeln. Doch zeigt dies deutlich die Schrumpfung ihrer vormals weitreichenden Bedeutung auf ein vor allem lokales Ansehen. Hingegen ist die geringe Beachtung, die die Anlässe der Töpfergesellschaft in der Tagespresse finden, ein zwar beklagtes, aber kein neues Phänomen. Schon 1859 und wieder 1860 beschwerte sich ein Besucher der Veranstaltungen in der Presse über diesen Mangel an Aufmerksamkeit gegenüber einheimischen Bestrebungen.

Die Ausschliesslichkeit des Totengerichts wurde schon in den Fünfzigerjahren unseres Jahrhunderts aufgegeben, und auch die Tradition der Korreferate ging verloren. Heute findet unmittelbar nach dem Vortrag eine öffentliche Diskussion im Saal statt, die anschliessend noch von einer kleineren Gruppe in der „Krone" weitergeführt wird, wo der Altgeselle nach Befragung der Gesellen den Referenten in die Gesellschaft aufnimmt. Es darf hier auch nicht verschwiegen werden, dass das Interesse selbst der Töpfergesellschaft an fremden Vorträgen in den frühen Achtzigerjahren so stark geschwunden war, dass bisweilen nicht mehr als zwei oder drei teilnahmen und der Altgeselle sich im anschliessenden Totengericht in der beschämenden Situation befand, als einziger Berechtigter den neuen Gesellen in eine Phantomgesellschaft aufnehmen zu müssen. Sie galt bei den einen unausgesprochen als liberales Kulturinstitut, bei den anderen als ausgesprochen bourgeoises Relikt; deshalb wurden Vorträge „linker" Autoren sowohl von dessen Gesinnungsfreunden als auch vom Stammpublikum geschnitten. Dieser Periode akzentuierter Schwierigkeiten verdankt auch die vorliegende Publikation ihre Entstehung. Als die Tage der Gesellschaft gezählt schienen, entschloss sich Max Wild zu einer Aufrechnung der gesamten Vortragstätigkeit der hundertdreissig Jahre. Inzwischen hat sich die Töpfergesellschaft, vor allem nach einem Antrag auf ihre Auflösung, zwar wieder erholt, und Vorträge und Totengericht werden besser besucht als zuvor. Aber sie kann ihre Anstrengung nicht mehr nur auf die Gewinnung der Referenten beschränken, sondern muss sie ebensosehr auf die Werbung für die einzelnen Vorträge verlegen. Wir hoffen jedoch, dass sie unter diesen Voraussetzungen im Jahre 2007 auch noch das hundertfünfzigste Jahr ihres Bestehens wird feiern können.

Solothurn, im Juni 1988

Der Altgeselle
Rolf Max Kully


Literatur

Alfred HARTMANN, Rückblick auf das Streben und Wirken der Solothurnischen Töpfergesellschaft während ihrem Fünfundzwanzigjährigen Bestehen 1857 bis 1882. Solothurn: Zepfel, 1882.

V. J. KELLER, Die Solothurnische Töpfergesellschaft. Rückblick auf ihr Wirken in den ersten 50 Jahren ihres Bestehens 1857-1907. Solothurn: Vogt-Schild, 1909.

[Franz KRUTTER], Die Solothurnische Töpfergesellschaft in ihren ersten zehn Lebensjahren. Solothurn: Gassmann, Sohn, 1867.

Hans Erhard GERBER u.a., 100 Jahre Töpfergesellschaft Solothurn 1857-1957. Solothurn o.J. [=1957].